Drei Fragen an Mi You

Interview

Seit Oktober 2021 sind alle Professuren des documenta Instituts besetzt. Mit Mi You, Felix Vogel und Liliana Gómez kamen Wissenschaftler:innen nach Kassel, die ihre jeweiligen Hintergründe, Ideen und Perspektiven in das documenta Institut einbringen. Einen ersten Eindruck davon wollen wir in der Reihe „Drei Fragen an…“ vermitteln. Dafür stellte Heinz Bude den Professor:innen folgende Fragen: Wie wurden Sie auf die Ausschreibung Ihrer Professur aufmerksam? Welchen Hintergrund bringen Sie mit? Und wo wollen Sie hin? Die Antworten gibt diesmal Mi You, Professorin des Fachgebietes Kunst und Ökonomien.


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HB: Wissen Sie noch, wo Sie die Stellenanzeige zu Ihrer Professur gelesen haben? In welcher Zeitung? In der ZEIT? Oder über ein Netzwerk? MY: Ich glaube, es war im Internet. Als ich die Ausschreibung der Professur Kunst und Ökonomien gelesen habe, erkannte ich, dass die Universität für unterschiedliche Auslegungen des Themas offen war. Zum einen war die Rede vom Eigenwert der Kunst, zum anderen aber auch von den infrastrukturellen und wirtschaftlichen Bedingungen der Kunstproduktion. Auch die Frage nach unterschiedlichen Wertformen stand im Raum – oder zumindest habe ich das so verstanden. Diese Offenheit kam mir entgegen. Denn mir geht es um ein produktives Querlesen von Kunst und Ökonomien. Für mich stellt sich dabei weniger die Frage nach der Ökonomie im Kunstbereich, etwa dem Kunstmarkt. Vielmehr geht es mir darum, wie wir durch die Kunst zu anderen ökonomischen Denkweisen gelangen können. Was bedeutet es, alternative Wertformen zu denken? Wie kann die Kunst dazu beitragen, neue Wert- und Gesellschaftsformen zu realisieren? Mit solchen Fragen habe ich mich sofort in der Ausschreibung wiedergefunden. Natürlich hat mich an der Ausschreibung auch die Verbindung zum documenta Archiv angesprochen. Aber auch die Aussicht darauf, dass das documenta Institut sowohl forschungs- als auch öffentlichkeitsorientiert arbeiten wird. Gerade dieser hervorgehobene Öffentlichkeitsbezug ist mir sehr wichtig. Deswegen will ich nicht nur in, sondern auch mit Kassel arbeiten, einer – wie wir wissen – vielschichtigen Stadt. Als äußerst reizvoll empfinde ich zudem die Möglichkeit, mich mit Kassel auch zwischen den documenta Ausstellungen zu beschäftigen. Denn das Regionale muss überhaupt nicht provinziell sein. Ich würde sogar sagen, dass die Zukunft Europas von kleineren Städten und ländlichen Gebieten abhängt. Schauen Sie sich dazu nur die Widerstände der Rechten an. Wie gesagt, die Arbeit mit der Öffentlichkeit am documenta Institut ist für mich zentral. HB: Und was ist Ihre Perspektive, wenn Sie forschen? MY: Mit der Kunst- und Medienwissenschaft sowie den Science and Technology Studies habe ich einen recht interdisziplinären Hintergrund. In meiner Doktorarbeit habe ich mich zudem intensiv mit dem Neuen Materialismus als auch dem Historischen Materialismus beschäftigt. All das verbinde ich, wenn ich mich mit Kunst und Ökonomien beschäftige. Die Frage nach dem Wert der Kunst betrachte ich klassisch aus Perspektive der Arbeitswerttheorie und der Produktionsverhältnisse. Aber auch aus Perspektive des Finanzkapitalismus. Zunehmend erkennen wir nämlich die strukturelle Ähnlichkeit von Kunst- und Finanzwelt. Etwa in dem Sinne, dass sowohl Kapital als auch Kunst in gewissem Sinne Subjekte sind, die eigenlogisch und eigenständig handeln. An diesem Punkt kommt dann auch wieder mein Anspruch ins Spiel, Kunst und Ökonomien auf produktive Weise querzulesen. Ich möchte mit meiner Arbeit nicht auf der Ebene von Kritik stehen bleiben, sondern die Verhältnisse weiterdenken und Veränderungsmöglichkeiten ausloten. Die Frage nach den Möglichkeiten und Theorien sozialer Transformation läuft entsprechend bei mir immer mit. In diesem Sinne ist es für uns in der Kunst zum Beispiel interessant, Wege zu finden, auf denen sich die Finanzen sozialisieren lassen und nicht weiter das Soziale dem Finanzdenken untergeordnet wird. Das heißt, Wert zu (re-)generieren, wo es bisher keinen gab. Oder Liquidität und Wertarbitrage für soziale Zwecke zu schaffen, indem wir zum Beispiel den Sektor der Sorgearbeit sowie größere soziale Infrastruktursysteme wie den Rentenfonds betrachten. Wie können wir also das System optimieren und andere Formen sozialer Organisation voranbringen? Das wird eine Perspektive in meiner Forschung sein. HB: Und haben Sie eine Vorstellung davon, wo Sie in vielleicht 10 Jahren sein wollen? MY: Das ist eine ziemlich lange Zeit, sagen wir einmal fünf Jahre. Wie gesagt, eines meiner Hauptanliegen ist die Frage, wie sich die Kunst wieder in die Gesellschaft einbringen und Teil der gesellschaftlichen Transformationsprozesse sein kann. Wie können Kunstschaffende etwa neue Formen der Organisation von Pflegearbeit oder auch des Rentenfonds in die Gesellschaft einbringen? Oder wie können wir uns von dem in der Kunstwelt vorherrschenden Produktionsdenken lösen und möglicherweise das Paradigma von der Produktion zur Instandhaltung verschieben? Die aktuelle documenta teilt übrigens dieses Anliegen. Auch ihr geht es um die transformative Kraft der Kunst, die in ganz unterschiedlichen Gebieten zum Einsatz kommen kann. Zum Beispiel in der Entwicklung des ländlichen Raums oder bei der Ökologischen Modernisierung oder allgemein im Technologiebereich. Gerade in Hinblick auf Technologien wäre es etwa notwendig, dass wir uns ihrer Relevanz bewusster werden und gegen die Diktatur von Big Tech vorgehen. Die Kunst kann bei der Suche nach alternativen Organisationsformen in diesem Bereich helfen und tut das bereits – man denke nur an Daten-Gemeinschaften und Plattform-Genossenschaften. All das sind große Aufgaben und ich glaube nicht, dass die Kunst sie selbstherrlich angehen sollte. Vielmehr sollten sich Kunstschaffende als Teil eines größeren Prozesses verstehen. Dabei können sie ihre Fähigkeiten einbringen, indem sie die Kraft von Erzählungen nutzen, indem sie unkonventionelle, nicht-technokratische Wege aufzeigen und indem sie mit relationalen Ansätzen experimentieren. Das ist für mich in Zukunft ein erstes Handlungsfeld. 
Das zweite handelt von der Frage der Globalität und der globalen Kunst. Wie sollten wir heutzutage eine globale Kunstwissenschaft betreiben? Es wäre zu wenig, wenn wir nur Fachwissen aus dem Bereich der Regionalstudien mit Kunst verbinden oder nun einfach nur die Kunst betrachten, die anderswo in der Welt „als solche“ existiert und stattfindet. Wichtiger wäre, wie wir transversale Linien ziehen können, die das, was irgendwo passiert, so miteinander verbinden, dass es auch anderswo tatsächlich relevant ist. Ich gebe einmal ein Beispiel. Gegenwärtig gibt es eine ziemlich hinterlistige Entwicklung in Polen und Russland. Dort wird die zeitgenössische Kunst durch rechte Politik kooptiert. Die Werke bedienen sich der zeitgenössischen ästhetischen Sprache, aber die Botschaft ist nationalistisch. Wir sollten solche Prozesse beobachten und die Verbindungen zwischen ihnen untersuchen. Das würde uns auch zu verstehen helfen, wo wir heute stehen und wohin sich bestimmte Milieus in den westeuropäischen Ländern, die immer noch die Hochburg der Demokratie sind, entwickeln könnten. Ich denke, solche Perspektiven wären für die globale Kunstwissenschaft zukünftig von Bedeutung und könnten einen tatsächlichen Unterschied machen.